Der Noriker
Der Noriker ist nicht nur die älteste einheimische Pferderasse Österreichs, sondern gilt auch als die älteste Kaltblutpferdezucht Zentraleuropas. Seine Wurzeln reichen über 2.000 Jahre zurück und liegen im zentralalpinen Raum, einem Gebiet, das der römischen Provinz Noricum entspricht. Diesem historischen Namen verdankt die Rasse ihre heutige Bezeichnung. Bevor er Ende des 19. Jahrhunderts den Namen „Noriker“ erhielt, war er über Jahrhunderte hinweg hauptsächlich unter dem Namen „Pinzgauer Pferd“ bekannt, was auf seine Hauptzuchtregion im Salzburger Pinzgau verweist.
Das Erscheinungsbild des Norikers ist eine direkte Folge seiner historischen Funktion und seiner Umwelt. Er ist ein mittelschweres, robustes Gebirgskaltblut, das durch seinen kompakten und muskulösen Körperbau besticht. Sein Interieur ist von besonderer Bedeutung; er ist bekannt für seinen ausgeglichenen, gutmütigen und nervenstarken Charakter, der ihn zu einem zuverlässigen und vielseitigen Partner macht.
Historische Entwicklung und Herkunft
Antike Wurzeln und die These der römischen Veredelung
Die Gründungslegende des Norikers, die seit dem späten 19. Jahrhundert verbreitet ist, besagt, dass die Rasse aus der Kreuzung von kleinen, stämmigen keltischen Ponys mit schweren Kriegspferden der römischen Legionäre in der Provinz Noricum entstand. Diese weit verbreitete Annahme, die durch einen österreichischen Tierarzt geprägt wurde, wird bis heute oft unhinterfragt wiedergegeben. Während die historische Abstammung von römischen Pferden nicht wissenschaftlich belegt ist, hat die Erzählung dennoch eine tiefe kulturelle Bedeutung erlangt. Sie verankerte die Rasse mit einer antiken Herkunft, die ihre regionale Identität in einer Zeit des aufkommenden Zuchtwesens und der Etablierung von Rassebüchern maßgeblich stärkte.
Vom Saumpferd zum Arbeitspferd der Alpen
Die früheste und für die Entwicklung des Norikers entscheidende Nutzung war die als Trag- und Saumpferd. Seine hervorragende Trittsicherheit, Wendigkeit und Kraft machten ihn zum idealen Partner, um den Handel über die steilen Alpenpässe zwischen dem heutigen Italien und Österreich zu ermöglichen. Im 15. und 16. Jahrhundert, als die Tauernregion zu einem der führenden Bergbaugebiete Europas aufstieg, waren Noriker zentral für den Transport von Rohstoffen wie Salz, Gold und Eisen. Auf dem Rückweg aus Italien brachten sie Güter wie Wein und Gewürze zurück. Erst im Spätmittelalter begann der Noriker, in der Landwirtschaft eingesetzt zu werden. Als Reaktion auf landtechnische Neuerungen im frühen 20. Jahrhundert, die Zugtiere mit höherem Widerstand erforderten, wurden Noriker gezielt auf ein größeres Stockmaß hin gezüchtet.
Barocke Einflüsse und die Zuchtorganisation
Ein entscheidender Entwicklungsschritt war die Veredelungsphase der Rasse, die im Jahr 1565 mit der Gründung des Gestüts Rif bei Salzburg begann. Durch die Einkreuzung von neapolitanischen und iberischen Hengsten bis 1806 erhielt der Noriker seine barocken Merkmale. Dieser Einfluss ist bis heute im Exterieur sichtbar, wie etwa im kräftigen und kompakten Gebäude, dem oft leicht ramsköpfigen Profil und dem meist vollen Langhaar. Auch die typischen und heute so begehrten Farbschläge wie Mohrenköpfe und Tigerschecken werden mit diesem barocken Blut in Verbindung gebracht.
Die staatliche Unterstützung für die Norikerzucht begann Ende des 19. Jahrhunderts, da der Bedarf an Zugtieren stark anstieg und der Import ausländischer Hengste langfristig unökonomisch war. Die Zucht wurde weiter professionalisiert, und 1903 wurde das Zuchtbuch geschlossen. Dies markierte den Übergang zur Reinzucht und legte den Grundstein für die genetische Stabilität der Rasse. Bis heute verwaltet das historische Hauptzuchtgebiet Salzburg das Ursprungszuchtbuch.
Krisen und die entscheidende Rolle der Fleischproduktion
Im 20. Jahrhundert erlebte die Noriker-Population dramatische Einbrüche. Zwar beeinträchtigte der Erste Weltkrieg die Rasse nur geringfügig, da die k.u.k.-Militärpferde autark organisiert wurden. Der Zweite Weltkrieg und die fortschreitende Industrialisierung führten jedoch zu einem massiven Bestandsrückgang. Von einem Höchststand von über 34.500 Norikern im Jahr 1968 sank die Population bis 1978 auf einen Tiefststand von nur noch etwa 4.800 Tieren, was die Rasse vom Aussterben bedrohte.
Das Überleben der Rasse hing in dieser kritischen Phase von einer pragmatischen und ökonomischen Anpassung ab: Ab den 1960er Jahren begann man, Noriker-Fohlen gezielt zur Fleischverwertung zu produzieren. Dieser unkonventionelle Schritt sicherte den Zuchtbestand in einer Zeit, in der ihre traditionelle Rolle als Arbeitstier stark abnahm. Diese ökonomische Funktion war eine brutale, aber effektive Überbrückung, die es dem Noriker ermöglichte, die kritische Phase zu überwinden und den Grundstein für seine spätere Wiederentdeckung als Freizeit- und Kulturgut zu legen. Dieser Verlauf zeigt auf, dass die Erhaltung traditioneller Rassen nicht immer auf romantischen Idealen, sondern mitunter auf pragmatischen wirtschaftlichen Werten beruht.
Exterieur und Rassemerkmale
Morphologie und Gebäude
Der Noriker ist ein mittelschweres und massiges Gebirgskaltblutpferd, dessen Körperbau perfekt an die Anforderungen alpiner Landschaften angepasst ist. Sein Exterieur zeichnet sich durch einen kompakten, muskulösen und rechteckigen Körperbau aus. Er besitzt einen niedrigen Schwerpunkt und ist bekannt für seine herausragende Trittsicherheit.
Typische Rassemerkmale sind ein trockener, ausdrucksvoller Kopf mit breiten Nüstern, ein kräftiger, gut bemuskelter Hals, der nicht zu tief angesetzt ist, und eine breite, tiefe Brust. Der Rücken ist stabil und kräftig, die Lenden sind lang, und die Kruppe ist stark bemuskelt und deutlich gespalten. Die Gliedmaßen sind kräftig und kurz, mit sauberen Gelenken und wenig Fesselbehang.
Die durchschnittliche Widerristhöhe des Norikers liegt zwischen 155 und 165 cm , wobei auch Exemplare bis zu 170 cm vorkommen können. Sein Gewicht variiert typischerweise zwischen 700 und 900 kg.
Die Konsistenz dieser Merkmale über die verschiedenen Quellen hinweg belegt den Erfolg der züchterischen Bemühungen, einen fest definierten Rassetypus zu schaffen.
Merkmal | Wertebereich |
---|---|
Stockmaß | 155 bis 170 cm |
Gewicht | 700 bis 900 kg |
Körperbau | kompakt, muskulös, rechteckig |
Fellfarben | Braune, Rappen, Füchse, Mohrenköpfe, Tigerschecken, Plattschecken |
Charakter | gutmütig, oftmals nervenstark, zuverlässig, arbeitswillig |
Gangarten | trittsicher, harmonisch, raumgreifend |
Die Farbvielfalt als Zuchtziel
Eine der markantesten Besonderheiten des Norikers ist seine große Farbvielfalt, die ihn von vielen anderen europäischen Kaltblutrassen abhebt. Neben den häufigen Grundfarben Brauner, Rappe und Fuchs gibt es seltene und sehr begehrte Farbschläge.
Besonders sind die Mohrenköpfe, eine Form des Blauschimmels, die auffälligen Tigerschecken (Leopard-Complex) und die Plattenschecken. Die Zucht von gescheckten und getupften Fellfarben ist ein aktives und gezieltes Zuchtziel bei dieser Rasse, was sie zu einem der wenigen Kaltblüter macht, bei denen diese Gene aktiv gefördert werden.
Die klassischen Hengstlinien der Norikerzucht
Die Norikerzucht ist maßgeblich durch fünf klassische Hengstlinien geprägt, die alle auf Gründerhengste des späten 19. oder frühen 20. Jahrhunderts zurückgehen und spezifische Merkmale an ihre Nachkommen weitergeben. Diese strikte Gliederung dient als fundamentales Werkzeug im Zuchtmanagement, das es den Züchtern ermöglicht, die Weitergabe von Merkmalen wie Kaliber, Temperament oder spezifischen Farbschlägen gezielt zu steuern. Die Dominanz der Vulkan-Linie über Jahrzehnte hinweg reflektierte die Präferenz für den schweren Wirtschaftstyp, während das Wiedererstarken anderer Linien wie Schaunitz eine Verschiebung der Zuchtziele hin zu vielseitigeren Freizeitpferden belegt.
Überblick über die fünf Linien
Die fünf anerkannten Hengstlinien sind: Vulkan, Nero, Diamant, Schaunitz und Elmar. Die Namen der Linien bilden jeweils den zweiten Teil des Hengstnamens, gefolgt von einer römischen Zahl, die die Generation seit der Liniengründung angibt.
Linie | Gründungshengst | Gründungsjahr | Charakteristische Merkmale | Heutige Relevanz |
---|---|---|---|---|
Vulkan | 13 Vulkan 635 | 1887 | Schwerer Wirtschaftstyp, kräftig, großrahmig, ausgeglichen | Zahlenmäßig stärkste Linie (über 50 % der Population) |
Nero | 554 Nero | 1933 | Edlerer Kaltbluttyp, trocken, ausdrucksstark, viel Gangvermögen | Zweitgrößte und sehr geschätzte Linie |
Diamant | 216 Diamant 496 (Urenkel von 367 Bravo) | 1903 | Leichter, drahtiger Typ, temperamentvoll, gute Gänge | Heute am seltensten vertreten |
Schaunitz | 255 Schaunitz (Sohn von Amor) | 1896 | Lebhaftes Temperament, aufrechter Hals, Vorwärtsdrang | Erlebt neuen Aufschwung, da der Typ dem modernen Zuchtziel entspricht |
Elmar | 80 Arnulf 55 | 1886 | Barocker Einfluss, leichtes Kaliber, Tigerschecken | Kleine, aber begehrte Linie, bekannt für ihre Farbe |
Die Vulkan-Linie
Die Vulkan-Linie ist seit ihrer Gründung die am weitesten verbreitete und zahlenmäßig stärkste Linie der Norikerzucht. Sie wurde 1887 von dem braunen Hengst 13 Vulkan 635 im Pinzgau begründet. Pferde dieser Linie stehen für den klassischen, schweren Wirtschaftstyp. Sie sind kräftig, großrahmig, besitzen viel Fundament und zeichnen sich durch ihren ausgeglichenen und verlässlichen Charakter aus. Der Grund für ihre Dominanz liegt in der Tatsache, dass die Gründerhengste und ihre Nachkommen genau dem idealen Arbeitstyp entsprachen, der über Jahrzehnte hinweg in der Land- und Forstwirtschaft gefragt war. Mit über 50 % der heutigen Norikerpopulation gehört die Vulkan-Linie zu den Hauptvertretern der Rasse.
Die Nero-Linie
Die Nero-Linie, begründet 1933 durch den Hengst 554 Nero, ist die zweitgrößte Linie innerhalb der Norikerzucht. Ihr bekanntester Vertreter ist der Fuchshengst 1378 Stoissen-Nero V/977, der auch heute noch als Idealbild der zeitgemäßen Norikerzucht gilt. Die Pferde dieser Linie repräsentieren einen edleren Kaltbluttyp mit einem trockenen, ausdrucksstarken Kopf, kraftvollem Körperbau und gutem Gangvermögen. Ihre starke Verbreitung ist vergleichbar mit der der Vulkan-Linie, da sie den gewünschten Kaltblutadel mit praktischer Arbeitsfähigkeit verbindet.
Die Diamant-Linie
Die Diamant-Linie wurde bereits 1877 durch den Hengst 367 Bravo 149 begründet, wobei ihr Name von seinem 1903 geborenen Urenkel 216 Diamant 496 abgeleitet ist. Bis in die 1950er Jahre war sie die zweitstärkste Linie, wurde aber im Zuge der Zuchtentwicklung von der Nero-Linie verdrängt. Typisch für diese Linie ist ein leichterer, drahtiger Schlag mit ausgeprägtem Temperament und Gangvermögen. Trotz ihrer Seltenheit in der heutigen Population sind die Pferde der Diamant-Linie für ihren Adel und ihre guten Proportionen bekannt.
Die Schaunitz-Linie
Die Schaunitz-Linie, begründet 1888 durch den Hengst Amor und benannt nach seinem Sohn 255 Schaunitz, ist bekannt für ihr lebhaftes Temperament, ihren aufgerichteten Hals und ihren starken Vorwärtsdrang. Ehemals war diese Linie stark zurückgegangen und galt als bedroht. In den letzten Jahren erlebt sie jedoch einen neuen Aufschwung, da ihr temperamentvollerer und bewegungsfreudigerer Typ sehr gut den Vorstellungen moderner Züchter für den Freizeitsport entspricht.
Die Elmar-Linie
Die Elmar-Linie wurde 1886 durch den Hengst 80 Arnulf 55 begründet und ist die Linie, in der der barocke Einfluss am deutlichsten sichtbar ist. Pferde dieser Linie führen noch immer das ursprüngliche andalusische Blut und tendieren zu einem leichten Kaliber und einem ramsköpfigen Profil. Die Linie ist insbesondere für das Auftreten von Tigerschecken berühmt. Obwohl es sich um eine kleine Linie handelt, sind die schön gezeichneten Tigerpferde sehr begehrt und erzielen hohe Liebhaberpreise.
Charakter und Interieur
Der Noriker ist in erster Linie für seinen herausragenden Charakter bekannt. Die Rasse gilt als ruhig, gelassen, gutmütig und nervenstark, was sie zu einem äußerst zuverlässigen Partner macht. Diese Eigenschaften sind kein Zufallsprodukt, sondern das Ergebnis einer jahrhundertelangen Selektion für den Einsatz in gefährlichen Situationen. Seine Ruhe und Trittsicherheit sind somit genetisch verankerte Attribute, die das Überleben in der alpinen Umgebung sicherten.
Die angeborene Gutmütigkeit und machen den Noriker zu einem idealen Pferd für Freizeitreiter. Trotz seiner Masse ist er ein lernbereites und sensibles Tier, das gut auf Körpersignale und Stimme reagiert.
Heutiger Gebrauch und seine Rolle in der Gesellschaft
Vom Arbeitspferd zum modernen Allrounder
Historisch war der Noriker ein reines Arbeitspferd, unentbehrlich in der Land- und Forstwirtschaft sowie als Last- und Zugtier im Bergbau und im Kriegsdienst. Während seine Bedeutung in der Landwirtschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark abnahm, hat sich seine Rolle in der heutigen Gesellschaft grundlegend gewandelt. Er ist heute vor allem als vielseitiger Freizeit- und Fahrpartner beliebt.
Vielseitigkeit im modernen Einsatz
Die Einsatzmöglichkeiten des Norikers sind heute sehr vielfältig.
- Reitsport: Aufgrund seines sanften Temperaments und seiner Trittsicherheit ist der Noriker ein hervorragendes Wander- und Geländepferd. Aufgrund seiner Lernbereitschaft und seiner harmonischen Gänge wird er auch in den Disziplinen Westernreiten, Dressur und Springen eingesetzt.
- Fahrsport: Ob im Turniersport oder bei festlichen Umzügen, der Noriker ist aufgrund seiner Kraft und seines ruhigen Wesens ein sehr geschätzter Partner.
- Spezialnutzung: Seine Gutmütigkeit und sein ruhiges Gemüt machen ihn zu einem idealen Therapiepferd und Familienpferd.
Brauchtum und naturschonende Forstwirtschaft
Der Noriker ist mehr als nur ein Nutztier; er gilt als „wertvolles bäuerliches Kulturgut“ und ist ein fest verankerter Teil der alpenländischen Kultur und Tradition. Seine imposante Erscheinung und seine Ruhe machen ihn zum Symbol bei Paraden, Umzügen und Brauchtumsveranstaltungen.
Gleichzeitig findet der Noriker zu einer seiner ursprünglichen Rollen zurück. Immer häufiger wird er wieder für die naturschonende Holzbringung in der Forstwirtschaft eingesetzt. Seine Kraft und Trittsicherheit sind in unwegsamem Gelände unersetzlich und bieten eine umweltfreundliche Alternative zu schweren Maschinen, die den Waldboden beschädigen würden.
Zucht und Erhaltung in der Gegenwart
Die Zucht und der Erhalt der Rasse werden heute zentral von der ARGE Noriker (Arbeitsgemeinschaft der Norikerzüchter Österreichs) sowie den regionalen Landes-Pferdezuchtverbänden koordiniert. Dank dieser gezielten Bemühungen hat sich die Population von ihrem Tiefststand in den 1970er Jahren erholt. Heute leben wieder etwa 10.000 Noriker in Österreich, wobei das Hauptzuchtgebiet in Salzburg, Kärnten und der (Ober-)Steiermark liegt.
Die Bedeutung des Norikers als schützenswertes Kulturgut wird auch staatlich anerkannt. Die Rasse zählt in Österreich zu den gefährdeten Haustierrassen und wird unter bestimmten Voraussetzungen über das ÖPUL-Programm (Österreichisches Programm für umweltgerechte Landwirtschaft) gefördert.
Quellen
- Arche Austria – Informationen zu Norikern
- Pferdesport Tirol – Noriker Pferde
- Vetmeduni PDF – Noriker Bachelorarbeit Pferdewissen
- Pferde Kärnten Austria – Übersicht der Zuchtbetriebe
- Norikerzuchtverein Innsbruck – Der Noriker
Wikipedia
Literatur
- Sambraus, Hans Hinrich: Gefährdete Nutztierrassen (ISBN 3-8001-4131-0)
- Willrich, Gine: Kaltblut Pferde (ISBN 3-405-15276-3)
- Druml, Mag. Thomas: Das Noriker Pferd